Sind die Aktienmärkte von der Realität entkoppelt?

Die Turbulenzen in diesem Jahr haben einigen Unternehmen Schwierigkeiten bereitet und anderen Unternehmen Chancen geboten - und der Aktienmarkt verhält sich genauso wie man es erwarten würde.

Hierzu ein Gastbeitrag von Weston Wellington. Er ist Vice President von Dimensional Fund Advisors und Experte für Marktforschung. Er arbeitet eng mit Finanzberatern in den USA, in Kanada, Europa und Australien zusammen.

Auf einem ehemaligen Milchhof im ländlichen New Hampshire habe ich mich zurückgezogen, wo ich von mehr schottischen Hochlandrindern als Menschen umgeben bin. Dank iPhone und Surface Pro stehe ich per E-Mail und Zoom weiterhin in Kontakt zum Büro. Seit sechs Monaten habe ich nicht mehr auswärts gegessen; meine Restaurantkosten sind praktisch auf null gesunken, dafür gebe ich deutlich mehr Geld für Lebensmittel aus. Etwa alle zehn Tage gehe ich mal raus und kaufe ein, vieles bestelle ich auch online. Nach dem Verkehr auf meiner unbefestigten Sackgasse zu urteilen, haben sich nicht nur meine Lebensgewohnheiten verändert. Wenn ich behaupte, jedes dritte Fahrzeug, das den Berg hinauf oder hinunterfährt, sei ein FedEx- oder UPS-Lieferwagen, der höchstwahrscheinlich ein Amazon-Paket zustellt, übertreibe ich nur leicht.

Für viele Menschen hat sich der Tagesablauf im Vergleich zum vergangenen Jahr dramatisch gewandelt, auch für mich: Normalerweise bin ich geschäftlich viel unterwegs, sitze pro Jahr deutlich öfter als hundertmal im Flugzeug und übernachte in dutzenden Hotels. Seit dem 18. März tue ich weder das eine noch das andere, woran sich in naher Zukunft wohl auch nichts ändern wird.

In Anbetracht dieser Entwicklung überrascht es nicht, dass sich einige Unternehmen übersteigende Umsätze freuen, während andere, vor allem Reiseunternehmen, zu kämpfen haben. Am 19. Februar 2020 erreichte der S&P 500 Index einen neuen Rekordstand1, um dann, den zunehmend düsteren Schlagzeilen folgend, in weniger als fünf Wochen um 33,79 % einzubrechen. Allerdings haben sich die Kurse auch schnell wieder erholt: Nach einem Tiefststand am 23. März stieg der S&P 500 in nur 3 Handelstagen um 17,57 %. Seit 1896 haben die US-Börsen 18 Bärenmärkte erlebt, von denen sie sich nur selten in diesem Tempo erholt haben. Bis zum 18. August hatte der S&P 500 sämtliche Verluste aufgeholt und einen neuen Rekordstand erreicht.

Viele sind von der Entwicklung irritiert, schließlich kann sich wohl kaum jemand unter 75 an derart düstere Schlagzeilen erinnern. Millionen Menschen haben abrupt ihren Arbeitsplatz verloren, traditionsreiche Unternehmen wie Brooks Brothers, Neiman Marcus und JC Penney sind in Konkurs gegangen.

Wie können Aktienkurse in Anbetracht derart ernüchternder Nachrichten mit neuen Höchstständen flirten? Ein Finanzjournalist stellte dazu vor Kurzem fest, „der Aktienmarkt entkoppele sich zunehmend von der wirtschaftlichen Realität.“

Stimmt das? Schauen wir genauer hin.

Der Aktienmarkt funktioniert wie ein Mechanismus, der die Einschätzungen von vielen Millionen Anlegern weltweit zusammenfasst und daraus Preise ableitet, zu denen diese Anleger Unternehmensanteile zu handeln bereit sind. Ein Aktienkurs entspricht dem Anspruch auf dauerhafte Gewinne und Dividenden, wobei in den Preisfindungsprozess nicht nur aktuelle, sondern auch weit entfernte Ereignisse einfließen. So gesehen waren die Aktienmärkte schon immer ein Stück weit von der Realität entfernt, schließlich sollen sie nicht die Tagestemperatur anzeigen, sondern Anlegererwartungen bis weit in die Zukunft hinein.

Außerdem entwickeln sich nicht alle Aktien gleich. Zu jedem Zeitpunkt florieren einige Unternehmen, während andere ins Trudeln geraten. Die verheerenden wirtschaftlichen Verwerfungen des Jahres 2020 haben einige Unternehmen in große Schwierigkeiten gebracht, für andere jedoch neue Möglichkeiten eröffnet. Zugegeben, diese Darstellung ist etwas vereinfacht, doch folgt man ihr, so scheinen die Aktienmärkte genau das zu tun, was wir von ihnen erwarten: Sie preisen neue Informationen ein.

Unternehmensübersicht
Die Wertentwicklung in der Vergangenheit stellt keine Garantie für zukünftige Entwicklungen dar.

Niemand hätte die Turbulenzen vorhersehen können, die die Finanzmärkte in diesem Jahr durchgeschüttelt haben. Anleger sollten sich jedoch eher auf das konzentrieren, was sich nicht verändert hat.

  1. Die Märkte blicken immer nur nach vorne; ein Tunnelblick auf tagesaktuelle Wirtschaftsdaten gleicht daher einem Blick in den Rückspiegel eines Autos, wenn wir uns eigentlich auf die Straße vor uns konzentrieren sollten.
  2. Durch sorgfältige Diversifizierung können Anleger Marktrenditen besser abschöpfen – auch die Renditen von Unternehmen, die weitaus besser abschneiden als erwartet.
  3. Nachrichten sind unberechenbar, auch deshalb empfiehlt sich eine Strategie, die sowohl vorhersehbaren als auch unvorhersehbaren Entwicklungen standhält, und daher Anlegern vermutlich weniger Sorge bereitet und Disziplin erleichtert.

Fazit: Lesen Sie die Zeitung, um als mündiger Bürger informierte Entscheidungen treffen zu können, nicht für Anlagetipps.

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